Fasten 2022 – das jetzt auch noch, oder jetzt erst recht?

Ende März markiert dieses Jahr ungefähr die Hälfte der bereits absolvierten Fastenzeit. Diese bietet für viele eine willkommene Gelegenheit, schlechte Angewohnheiten aufzugeben oder sich neue Verhaltensweisen – zumindest probeweise – anzueignen. Dabei ist „Verzicht“ – wenn nicht eindimensional gedacht – nichts Negatives, sondern die Chance, neue Perspektiven auf Lebensaspekte zu entdecken und bestehende Gedankenmuster zu hinterfragen.

 

Fasten your seat belt damit der Gürtel noch zugeht, darf mehr als nur Essen gefastet werden

Auch wir driver hatten viele Ideen und „Challenges“ im Kopf, die angesichts der akut dramatischen Lage in der Ukraine plötzlich vermessen klingen. Dort, wo ganz viele Menschen plötzlich auf ALLES verzichten müssen und alles (und jeden) verlieren, ist es kein Spiel und keine ‚coole‘ Spaß-Challenge, mal kurz die eigene ‚Komfortzone‘ zu verlassen. Das wissen wir. Dennoch haben sich die einzelnen Team-Members in ihrer designierten Woche auf den Weg gemacht und sich an verschiedenen Verzichten bzw. positiven „Statt-dessen“-Handlungen versucht.

 

Fastenzeit = Zeit für Demut und Haltung!

Ganz bewusst haben wir also beschlossen, die diesjährige Fastenzeit im Zeichen der Demut anzugehen: nicht an Kontinente und Landesgrenzen gebunden, sondern auf dem allgemeineren humanistischen Wertekonstrukt der Mitmenschlichkeit, Freiheit und demokratisch-liberalen Ordnung.

Soweit zu unserer Einordnung. Dann ermöglichte uns Emely van Setten*, die sich gerade in ihrer Facharbeit mit dem Thema befasste, einen kleinen religiösen Exkurs zum Thema Fasten, den wir gerne integrieren, um unsere Auffassung zu erweitern.

Danke an Lisa (driversity) für die Zusammenstellung, die in die Serie unserer neuen „Mental Health“ – Reihe fällt. Meldet euch gerne zur Beteiligung an weiteren Episoden.

Emely, Frederic, Lisa und die Frage:
"Dient die Fastenzeit dem bewussten Verzicht, 
um neue Perspektiven zu gewinnen?"

*Emely van Setten ist 18 Jahre alt und Schülerin des St.-Viti-Gymnasiums, in Zeven. Sie engagiert sich bei Fridays for Future. Auf driversity ist sie durch Instagram aufmerksam geworden. Da kam ihr gleich die Idee, dass ihre Facharbeit doch eine gute Grundlage für den Blogartikel leisten kann.

Emily ist bereits seit zwei Jahren Vegetarierin und nutzt diese Fastenzeit für eine vegane Ernährung:  „Wenn wir wirklich nachhaltig leben wollen, dann ist der bewusste Umgang mit unseren Ressourcen immens wichtig. Wertschätzung den Tieren gegenüber kann und muss für mich Priorität haben. Ich sehe die vegane Ernährung in der Fastenzeit als eine für mich bewusste Entscheidung, um meinen Betrag für ein nachhaltiges Leben zu leisten. Die Fastenzeit ist für mich auf alle Lebensbereiche anzuwenden und bringt uns näher zu uns. Unabhängig, ob hier eine religiöse oder gesundheitliche Betrachtungsweise vorhanden ist. Innehalten und in sich zu schauen hilft aus meiner Sicht, uns neu auszurichten und unser Handeln zu bewerten.

 

Aus Emelys Arbeit:

„…Im Allgemeinen beschreibt das Fasten die Zeit vor Ostern, welche von auferlegten Einschränkungen und Bußübungen geprägt ist (vgl. Duden). Diese Definition ist passend für die biblische Bedeutung des Fastens.

Sowohl in den verschiedensten Kulturen als auch in den Weltreligionen, ist das Fasten eine verbreitete Tradition. Die Umsetzungen variieren hierbei und sind von unterschiedlicher Bedeutung. Der Stellenwert des Fastens für Muslime und Christen ist deutlich höher als für Nichtgläubige, die sich ans Fasten wagen. Religiöse Schriften, wie auch die Bibel, berichten vom Fasten und von Fastenden. Jesus und Mose sind zwei von vielen, die das Fasten praktizierten. Jesus begab sich 40 Tage in die Wüste, wanderte und fastete. Mose hingegen fastete am zehnten Tag des Mondmonats Tischiri.

Und der Herr redete mit Mose und sprach: Am zehnten Tage in diesem siebten Monat ist der Versöhnungstag. Da sollt ihr eine heilige Versammlung halten und fasten und dem Herrn Feueropfer darbringen und sollt keine Arbeit tun an diesem Tage, denn es ist der Versöhnungstag, euch zu entsühnen vor dem Herrn, eurem Gott. (3. Mose 23, 26-28)
Diese Bibelstelle beschreibt die jüdische Tradition des Fastentages Jom Kippur, welcher einen der heiligsten Tage im Jüdischen ausmacht.

Der Zusammenhang zwischen Jesus und der Fastentradition entstand aufgrund seiner Reise durch die Wüste. Im Laufe seines Lebens beschließt Jesus sich durch Johannes taufen zu lassen. Anschließend zieht er, wie bereits angedeutet, 40 Tage lang zum Beten und Fasten durch die Wüste. Der Geist führte ihn dort hin und die beiden kommunizierten miteinander.

Jesus äußert ihm gegenüber: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ (Matthäus 4, 4)

Die Autorin nutzt dieses Zitat, um die drei Dimensionen Fasten, Beten und Almosen geben des christlich-religiösen Fastens einzuführen. Vorher sei aber eine Anmerkung erlaubt: Wie bedeutungsvoll ist bitte diese Aussage? Denn klar, auch der heutige Mensch lebt nicht allein vom Brot, oder? Gerade durch die Corona-Zeit sind uns doch auch die nicht-materiellen Dinge aufgefallen, die ebenso unser Leben ausmachen. Wir haben festgestellt, dass unbeschwertes Zusammensein auf engem Raum, der Austausch mit anderen Menschen, der unverdeckte Blick auf ein lächelndes Gesicht oder eine Umarmung irgendwie auch essenziell sind.

So wird also der reine Verzicht auf Nahrung während der Fastenzeit der medizinisch-körperlichen Dimension zugeschrieben. Beten erfüllt die spirituell-religiöse Dimension, und Almosen geben, die mitmenschlich-psychosoziale Dimension.

Interessant ist, dass Fasten eben über das Körperliche hinaus geht. Das Schöne daran ist, dass diese Dimensionen den Wert und die Idee des Fastens, auch für uns maßgeblich erweitern, nämlich auf unsere Mitmenschen!

Und wie lässt sich das jetzt in unsere säkularisierte Welt übersetzen?

Es geht also scheinbar nicht nur darum etwas an mir selbst zu ändern, sondern auch bewusst wahrzunehmen: „was macht diese Änderung mit mir“? Was ist in unserem Inneren los, welche Veränderungen brauche ich vielleicht auch – und wozu? Reflektion ist mitunter eine spirituelle Angelegenheit. Fred kann das sicherlich bestätigen; er hat beschlossen ausschließlich kalt zu duschen. Wer sich ein wenig in diese Methode einliest, stößt schnell auf Atem- und Achtsamkeitsempfehlungen, die damit einhergehen und die er ebenso umsetzen möchte. Also das geht sicher über das rein Körperliche hinaus.

Müssen wir mal dringend unser Innenleben aufräumen, ausmisten, nach Marie Kondo: Was bringt keine Freude, was dient uns nicht mehr? Oder sollten wir jemandem – vielleicht sogar uns selbst – etwas vergeben? Gibt es da etwas, das wir loslassen müssen oder womit wir endlich mal Frieden schließen wollen? Fangen wir noch weiter vorne an: sollten wir uns einfach mal die Zeit nehmen in uns hineinzuhören? Unsere Bedürfnisse wahrnehmen? Kamen wir darüber vielleicht darauf, auf was wir in der Fastenzeit mal verzichten sollten? So hat Christina zum Beispiel beschlossen auf Zucker zu verzichten und stattdessen regelmäßig Yoga zu machen. Lisa möchte lieber ihre zeitfressenden Handy-Apps wie TikTok aussetzen und stattdessen zur Gitarre greifen.

(Ab) Wann sind wir spirituell? Wenn wir uns bewusst einer Praxis widmen, die wir zu unserer gemacht haben? Etwas wie der erste Kaffee des Tages am offenen Fenster, der Spaziergang in der Mittagspause, die Dankbarkeitsübung am Ende des Tages?

Aber was ist das mit den Almosen? Soll ich jetzt jedem Menschen auf der Straße Kleingeld geben? Und ja, das können in großen Städten ganz schön Viele sein. Wie kann das noch aussehen? Gute Frage, deshalb der Versuch einer Annäherung: Was sollten wir mit anderen teilen? Was wollen wir anderen abgeben, anbieten, wo wollen wir offen sein? Zum Beispiel hat sich Katrin vorgenommen, beim Einkaufen auf Plastikverpackungen zu verzichten. Dass dieses Vorhaben beim ersten Einkauf bereits zu Verzweiflung geführt hat, hat sie nicht davon abgehalten, gemeinsam mit der Familie ihre Umwelt von umherliegendem Müll zu befreien. Eine offensichtliche Motivation, auch für ihre Mitmenschen, eine sauberere Umwelt zu schaffen.

Was verschenken wir gerne? Zuhören? Ungeteilte Zeit und Aufmerksamkeit? Klar, wir können Münzen hergeben, Beträge spenden, Sachen weitergeben, wir können auf die Straße gehen, Infos teilen, oder unseren Wortschatz lehren. Und wir können gerne mal wieder bei jemandem anrufen. Diese Erfahrung hat sicher Keuterix, gemacht, während er auf Whatsapp verzichtet hatte. Es sei ihm nicht sehr schwer gefallen, jedoch verkomplizierte sich die Situation, sobald es um die Koordination mehrere Personen ging, die sich normalerweise in der Familien-Whatsapp-Gruppe organisieren. Doreen möchte ebenfalls die eingesparte Zeit vor dem Fernseher nutzen, um wieder mehr zu Lesen – auch wenn das flimmernde Couching ebenfalls ein Hobby des Familienhundes ist. Hoffentlich gibt es ein happy (wedelndes) end.

Als Kernelement ihrer Arbeit setzt Emely von Setten das folgende Zitat:

„[D]as Fasten ist nicht eines der Hauptthemen der Bibel; es ist weder ein Fundament des Glaubens noch ein Allheilmittel für geistliche Probleme. Ein Fasten jedoch, das mit reinem Herzen und aufrichtigen Motiven praktiziert wird, kann zu einem Schlüssel werden, der Türen öffnet, wo andere Türen versagt haben.“ (Wallis 2000: 8)

Wie schön und wundervoll versprechend klingt das bitte angesichts der aktuellen Zeiten von Pandemie und Krieg? Das heißt also, egal aus welchem Antrieb heraus wir fasten und egal was wir da genau machen, es zählt vor allem das „Wie“!

In diesem Sinne zitieren wir hier auch gerne nochmal den Appell aus unserem LinkedIn-Ursprungspost: „Was immer ihr euch vorgenommen habt für die kommenden 6 Wochen, macht es einfach – aber nicht nur für euer Ego, sondern widmet bewusst euer Herz und eure Willenskraft denen, die jegliche Unterstützung bitter nötig haben. Egal ob eine Woche oder die komplette Periode, eure Aktionen können als persönliches Symbol für Gemeinschaft und Durchhaltefähigkeit dienen.“

Was habt ihr vor?

Jede Woche wird ein/e driver:in eine persönliche Inspiration vorstellen, der ihr euch gerne anschließen und ergänzen dürft, aktueller Stand:

  • Woche 1: Warmwasser-Verzicht (kalt duschen +breath work) => Fred
  • Woche 2: WhatsApp- und Kaffee-Verzicht => Dirk K.
  • Woche 3: Plastik-Verzicht (und Müll sammeln) => Katrin
  • Woche 4: TV-und Streaming-Verzicht (dafür Lesen) => Doreen
  • Woche 5: Zucker-Verzicht (dafür Joggen, Yoga) => Romeo, Christina
  • Woche 6: Handy-Apps-Verzicht (dafür musizieren) => Lisa

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copyright Bilder: unsplash, Pixabay

Hausarbeit Emely van Setten: „Christliche Ursprünge des modernen Heilfastens“, 07.03.2022, Seminarfach Religion